Wackenbrunn
Zur Geschichte eines verschwundenen Dorfes im Mümlingtal
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist heute eine
Siedlung, die einst unweit der Burg Breuberg im Mümlingtal lag. Sie trug
den Namen: "Wackenbrunn".
Die Ritter von Wackenbrunn
Die Bedeutung der Herren von Breuberg in der Geschichte
des kleinen Ortes wird bereits in der ältesten urkundlichen Nachricht
erkennbar. 1246 verzichteten die Brüder Arnold, Hertwig und Albert,
genannt „Wackenburne“, auf den ihnen im gleichnamigen Dörfchen von der
Herrschaft Breuberg zu Lehen gegebenen Zehnten zugunsten des
Nonnenklosters Höchst.
In Wackenbrunn war also ein altbreubergisches
Vasallengeschlecht ansässig, somit ein ritterlicher Wohnsitz vorhanden.
Wie er aussah wissen wir nicht, doch war er bestimmt in wehrhafter Form
erbaut. Dass die hier als „villa“ bezeichnete Siedlung mehr umfasste als
den Edelsitz, dass zu ihr mindestens ein Bauernhof gehörte, liegt auf
der Hand (und ist für später auch belegt), denn wer sonst hat die
Flur bewirtschaftet und den Zehnten an die Ritterfamilie abgeliefert.
Da um diese Abgabe der Urkunde zufolge vorher mit dem
Kloster gestritten worden war und die nunmehrige Abmachung in Gegenwart
von 22 Zeugen getroffen wurde (unter ihnen mehrere hier erstmals
greifbare Angehörige bekannter Adelsgeschlechter unserer Gegend), wird erkennbar, dass
der Wackenbrunner Zehnt einige Bedeutung besessen haben muss.
1258 taucht ein „Wortwinus de Wackenburnen“ in einer für
das Kloster Schmerlenbach ausgestellten Urkunde als Zeuge auf. Sein Name
deutet auf eine nahe Verwandtschaft oder Identität mit dem wenige Jahre
später als Zeuge für die Herren von Breuberg auftretenden „Wortwinus de
Reibach“. In ihm haben wir den ersten bekannten
Angehörigen der Ritter von Raibach (Rai-Breitenbach) vor uns.
Letztere sind Anfang des 15. Jh. mit dem
breubergisch-wertheimischen Amtmann Henne von Raibach im Mannesstamm
erloschen. Bezeichnenderweise hatte dieser Ritter auch Besitz in
Wackenbrunn, und zwar eine Wiese „bey der Brucken gelegen“. Dieses
breubergische Lehen kam 1455 zum Teil an den Niederadeligen Hans
Waltmann. Wahrscheinlich führt der Besitzweg über
den Ritter Helfrich Bach, da dieser 1429 von Breuberg-Wertheim eine „Mannsmathwiese“
zu Wackenbrunn als Lehen erhielt, die oberhalb und unterhalb der Brücke
lag. Das Rittergeschlecht mit dem Beinamen „Bach“
hatte Wohnsitze in Raibach, Mömlingen, Neustadt und am Neustädter Hof.
Der
neuen Stadt einverleibt
Letztgenannte Siedlung, 1113 erstmals urkundlich erwähnt,
hieß früher Neustatt („Nuwenstat“), weshalb sie von der
Geschichtsforschung lange mit Neustadt im Odenwald verwechselt wurde.
Die neue Stadt zu Füßen des Breuberges ist jedoch erst 1378 von Graf
Johann I. von Wertheim, dem damaligen Mitinhaber der Herrschaft
Breuberg, gegründet worden.
Dieser Vorgang steht in direktem Zusammenhang mit dem
Wüstwerden von Wackenbrunn. In einem Weistum von 1432 ist folgendes zu
lesen: „... auch hatt die Herrschaft von Wertheim ein eygen Hoff der
hiez Wackenbron und waz gelegen by Nuwenstat, den gab die Herrschaft ...
den armen luten eyn teyl der eckere und wiesen ...“.
Damit wird erkennbar, warum Wackenbrunn eingegangen ist.
Die Grafen von Wertheim haben ihre dort gelegenen, zu ihrem Hof
gehörigen Äcker und Wiesen, soweit sie nicht als Lehen an Niederadelige
vergeben waren, den „armen Leuten“, also den bäuerlichen Einwohnern
ihrer neugegründeten Stadt überlassen. Sehr wahrscheinlich befanden sich
unter den nunmehrigen Stadtbürgern auch die letzten Bewohner von
Wackenbrunn. Ähnlich erging es damals den Einwohnern des Dorfes
Arnheiden. Auch sie wurden von Graf Johann I. von Wertheim in die von
ihm gegründete Neustadt übersiedelt. Allerdings blieb dort ein
herrschaftlicher Gutshof bestehen: der heutige Arnheiter Hof.
Der Umstand, dass um 1378 nur noch ein Hof in Wackenbrunn
vorhanden war, muss nicht bedeuten, dass dort zuvor sonst keine weiteren
bäuerlichen Hofstätten standen. Um die Mitte des gleichen Jahrhunderts
haben nämlich gewaltige Pestseuchen unser Land heimgesucht und
nachweislich auch im Mümlingtal ihre entvölkernden Spuren hinterlassen.
Dass danach in erster Linie die Herrschaftshöfe wieder bewirtschaftet
worden sind, versteht sich von selbst.
Warum Wackenbrunn - im Gegensatz zu Arnheiden - als
Siedlung völlig aufgegeben worden ist, liegt in seiner Nähe zu Neustadt
begründet, von wo aus die Wackenbrunner Fluren nicht nur auf kurzem Weg
erreichbar und damit leicht zu bewirtschaften waren, sie bildeten
offensichtlich auch den wesentlichen Bestandteil der Gemarkung von
Neustadt. Wahrscheinlich gehörte deren südlich der Mümling gelegener
Bereich einst komplett oder doch großteils zu Wackenbrunn.
Deutlich wird dies, wenn man historische Karten, die
alten Straßenverbindungen und überlieferten Flurnamen eingehend studiert
und mit der schriftlichen Überlieferung und den topografischen
Gegebenheiten vergleicht. Auf diese Weise gelingt es auch, den Standort
der Siedlung Wackenbrunn ziemlich genau zu lokalisieren.
Wo lag
Wackenbrunn?
Richtungweisend ist zunächst der noch gebräuchliche
Flurname „Backenbrunn“, der zweifellos eine Verschleifung von Wackenbrunn darstellt. Man findet ihn südlich der Mümling, ungefähr 700
Meter vom mittelalterlichen Neustadt entfernt.
Während dieses eingezwängt zwischen der Mümlingtalaue und dem steil
ansteigenden Breuberg liegt (und sich allein dadurch als „künstliches“
Gebilde ausweist), waren im breiten Gemarkungsteil südlich der Mümling
die für eine sich selbst versorgende Siedlung notwendigen Acker- und
Wiesenflächen in größerem Umfang vorhanden bzw. durch Rodung zu
gewinnen. Gerade im Bereich „Backenbrunn“ ist der Boden von guter
Qualität, und hier mündet auch ein kleines Seitental (mit dem
rätselhaften Namen „Apotikke“) in die Mümlingtalebene.
An die Flur Backenbrunn schließt sich westlich die
„Fuchshecke“ an. Eine Kundschaft von 1433 enthält die Aussage, dass
einst „zwo Scheüern zu Wackenbronn an der Fuchs
Hecken gestanden". Das ist der konkreteste
Hinweis auf den Standort der - wohl letzten - Gebäude von Wackenbrunn.
Alte Verkehrsverbindungen
Auf das
Gebiet Fuchshecke - Backenbrunn als ehemalige Siedlungsfläche deuten
noch weitere Sachverhalte. Es befindet sich nämlich dort auch eine alte
Wegkreuzung. Nach Osten stellt der „Fuchsweg“ die Verbindung mit
Breitenbach-Raibach und dem Breitenbachtal dar. Nach Westen geht es über
die „Apotikke“ nach Rimhorn bzw. auf dem „Fürstenweg“ über den
Galgenberg und den Hang des Bohrberges nach dem Dörfchen Dusenbach, das
mehrere Gemeinsamkeiten mit Wackenbrunn erkennen lässt. Nach Süden führt
der früher auch als Viehtrieb genutzte Weg den „Tännchesberg“ hinauf in
den ehemaligen Markwald der Cent Höchst (zu der Wackenbrunn gehört haben
muss) und ebenfalls - jedoch geradliniger und steiler als über die „Apotikke“
- zum Höhenort Rimhorn.
Die größte historische Bedeutung kommt der in nördliche
Richtung zielenden Verkehrsverbindung zu. Sie zieht über die (in
jüngerer Zeit zusammen mit dem Fluss verlegte obere) Mümlingbrücke
hinauf zum Breubergsattel und findet hier Anschluss an eine
geschichtsträchtige Höhenstraße, die als „Alte Frankfurter Straße“
bekannt ist. Ihr für die frühmittelalterliche Geschichte des mittleren Mümlingtales bedeutendster Ast führt nach Groß-Umstadt. Im Jahr 766
erhielt nämlich das Reichskloster Fulda durch königliche Schenkung den
Fiskus Umstadt, in dessen südlichem Bereich im Hochmittelalter die Burg
und Herrschaft Breuberg entstanden. Die von Groß-Umstadt und der Burg
Breuberg herkommende Verkehrsverbindung, die zielstrebig über die Mümling hinüber in die Flur Backenbrunn verläuft und Neustadt links
liegen lässt (weil sie älter ist als dieses), stellt somit gewissermaßen
die siedlungs- und herrschaftsgeschichtliche Nabelschnur von Wackenbrunn
dar.
Siedlungsspuren früher Epochen
Wann die Siedlung Wackenbrunn entstanden ist, kann nicht
genau bestimmt werden. Orientiert man sich am Ortsnamen, so ist
anzunehmen, dass Wackenbrunn nicht der ältesten Schicht von
Siedlungsgründungen angehört, so dass eine Entstehung nach 766, also
unter fuldischer Oberherrschaft, wahrscheinlich ist. Das kann den
konzentrierten Besitz der Herren von Breuberg in Wackenbrunn erklären,
denn sie waren Vögte der Reichsabtei Fulda.
Besiedelt war der Raum um Wackenbrunn allerdings schon
in vormittelalterlichen Epochen. So hat man in der Flur „Seewiesen“, ca.
500 m östlich der Wackenbrunner Altwegekreuzung, die Grundmauern einer
römischen Villa ausgegraben. Damit im Zusammenhang zu sehen sind die
Reste einer römerzeitlichen Mühle, die am Unterlauf des Breitenbaches
entdeckt wurden. In noch frühere Zeit deutet eine wohl prähistorische
Wallanlage auf dem nahe gelegenen steilen Bohrberg, wo der Sage nach die
dann auf dem Breuberg erbaute Burg ursprünglich errichtet werden sollte.
Auf der
Suche nach dem „Wackenbrunnen“
Eine beeindruckende Bestätigung für unsere Lokalisierung
bietet auch der Ortsname Wackenbrunn selbst. Brunnen, also Quellen, gibt
es im Umkreis mehrere, doch welcher ist der „Wackenbrunnen“? Dass eine
ganz bestimmte Quelle diesen Namen trug und daß sie nicht im Wiesengrund
zu suchen ist, verdeutlicht die Lageangabe „Acker am Wackenborn“.
Was aber verbirgt sich hinter dem Bestimmungswort „Wacken“?
Die ältere Forschung ging davon aus, dass ein Franke „Wacko“
der namengebende Siedlungsgründer gewesen sein könnte.
Träger dieses Namens sind beispielsweise als Wohltäter des im 8.
Jahrhundert gegründeten Klosters Lorsch überliefert,
das im Odenwaldraum zu umfangreichen Besitzungen gekommen ist. Trotzdem
möchte ich dieser These widersprechen, denn der fragliche
Namensbestandteil lässt sich auf andere Weise wesentlich überzeugender
erklären: „Wacken“ ist nämlich der veraltete Begriff für Felsbrocken,
für im Gelände liegende Feldsteine (vgl. „Wacken“ und „Wackensteine“ in
Grimms Wörterbuch bzw. „Wackersteine“ in Grimms Märchen). Direkt am Hang
oberhalb von Wackenbrunn, neben dem von der besagten Altwegekreuzung den
Tännchesberg hinaufziehenden Weg liegen große und kleinere Feldsteine,
ragen Felsen aus dem Boden!
Um sie zu bemerken, muss man heute etwas genauer
hinsehen, da die meisten von Buschwerk, Wurzeln und Hecken überwuchert
sind. Mehreren Gruben nach zu schließen ist auch Steinmaterial
gebrochen und abtransportiert worden. Dass die dortigen Felsen früher
zahlreicher und augenfälliger waren, ist anhand der amtlichen
Messtischblätter erkennbar, auf denen sie schon immer eingezeichnet sind.
Auffällig sind die Steine auch deshalb, weil es sich nicht um den sonst
in der Gegend vorherrschenden Buntsandstein, sondern um Granit handelt.
Auch dieser Umstand spricht für die einstige Bezeichnung als „Wacken“,
denn diese ist vorwiegend für harte Gesteinsarten verwendet worden.
Am gleichen Berghang wie der felsige Viehtrieb, nur ein
kurzes Stück westlich davon, stößt man auf eine gefasste (!) Quelle,
deren Wasser mit dem im Talgrund der Apotikke plätschernden Bächlein zur
nahen Wackenbrunner Wegkreuzung und weiter zur Mümling fließt. In dieser
Quelle, die von manchen Einheimischen als heilkräftiger
„Gesundheitsbrunnen“ geschätzt wird, möchte ich den alten „Wackenbrunnen“
sehen, so benannt nach den markanten Wackensteinen in seiner Nähe - und
selbst namengebend für die in der Nachbarschaft entstandene
mittelalterliche Siedlung.
In den ehemals zu Wackenbrunn gehörenden Fluren gibt es
noch andere Stellen, an denen Granit ansteht (am Fuße des Galgenberges
wurde bis vor wenigen Jahren der Granit zu Schotter verarbeitet) oder
Quellen sprudeln, doch stehen diese zum Siedlungsbereich von Wackenbrunn
in keiner so engen räumlichen Beziehung, wie das bei dem oben
beschriebenen Brunnen der Fall ist.
Geschichtsträchtige Flurnamen im Wiesengrund
Auch im einst breiten Wiesengrund zwischen der am
hochwasserfreien, fruchtbaren Talrand gelegenen Siedlung Wackenbrunn und
der Mümling haben sich geschichtsträchtige Flurnamen erhalten. Sie
verdeutlichen, dass wir hier jene Wackenbrunner Grasflächen vor uns
haben, von denen die oben zitierten Urkunden berichten, dass sie von der
Herrschaft Breuberg an Niederadelige als Lehen vergeben waren.
„Herrenwiese“ verweist auf die breubergischen Lehensherren. „Mannsfarth“
geht zweifellos auf die 1429 genannte „Mannsmathwiese“ zurück, was wohl
im Sinne von „Mannsmahd“ zu deuten ist, als Wiesenfläche bestimmter
Größe (die ein Mann am Tag mähen konnte?). Der
dritte markante Flurname „Schelmenswiesen“ erinnert wie noch weitere im
nördlichen Odenwald anzutreffende Bezeichnungen mit dem gleichen
Bestimmungswort an die Ritterfamilie der Schelm von Bergen, die im
Spätmittelalter Breuberger Burglehen besaßen und hier sogar einen
Amtmann stellte.
Ein
Kreis schließt sich
Bereits im
14. Jh. haben die Grafen von Wertheim erkannt, dass die von ihnen am
Fuße des Breuberges gegründete neue Stadt auf die Gemarkung von
Wackenbrunn angewiesen ist. In viel stärkerem Maße zeigt sich dies in
unserer Zeit, allerdings immer weniger aus landwirtschaftlicher Sicht
als vielmehr wegen des Bedarfes an Baugelände für Wohnhäuser,
Gewerbe, Industrie und Verkehr.
Literatur
Wolfgang
Hartmann: Wackenbrunn – eine
verschwundene Siedlung im unteren Mümlingtal.
In: Odenwälder
Jahrbuch für Kultur und Geschichte 1998, S. 69-74.
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