Forschungsthemen von Wolfgang Hartmann

Alte Martinskirchen am Untermain

 

Mit dem jährlich am 11. November gefeierten Martinstag, dem Gedenktag an einen der volkstümlichsten Heiligen der katholischen Kirche, sind verschiedene Bräuche verknüpft, wie die vielerorts veranstalteten Martinszüge und das schon früher weit verbreitete Martinsgans-Essen. In besonderer, tiefergehender Weise sind jene Städte und Gemeinden mit Sankt Martin verbunden, in denen er der Patron der Pfarrkirche ist oder war. Im Landkreis Miltenberg trifft dies gleich auf fünf Orte zu. In jedem von ihnen vollzog sich diesbezüglich eine andere geschichtliche Entwicklung. In Mömlingen war die zuletzt im Barockstil erneuerte Martinskirche bis zur Erbauung eines neuen Gotteshauses 1963 die alleinige Pfarrkirche. In Bürgstadt verlor die durch ihre reiche Ausmalung bekannte Martinskapelle ihren ursprünglichen Rang als Pfarrkirche bereits im frühen 13. Jahrhundert an die damals neu errichtete Margarethenkirche. In Kleinheubach ist die Martinskirche seit der Reformation evangelisch, trägt aber noch ihren alten Namen. In Wörth verbirgt sich in der Friedhofskapelle der übrig gebliebene Chor der ehemaligen Martinskirche. Ihr Status als Pfarrkirche ging zuerst de facto und später auch de jure an das zuletzt St. Wolfgang geweihte Gotteshaus in der im 13. Jahrhundert am Mainufer neu gegründeten Stadt über. In Großwallstadt erinnert nur noch die Ortschronik daran, dass die Pfarrkirche Sankt Peter und Paul im Mittelalter den heiligen Martin zum Patron hatte.

Die Stadt Miltenberg führt Sankt Martin – ähnlich wie auch Aschaffenburg – als thronende Bischofsgestalt im alten Stadtwappen. Es kommt darin die lange, bis ins frühe 19. Jahrhundert währende Zugehörigkeit zu Mainz zum Ausdruck, das den gleichen Heiligen von alters her als Patron verehrt. Und ganz aktuell: Die gegenwärtig zwischen Miltenberg-Nord und Bürgstadt entstehende neue Mainüberquerung soll, wie man kürzlich beschlossen hat, den Namen „Martinsbrücke“ erhalten und mit einer Martinus-Statue geschmückt werden.

Die Lebensgeschichte des heiligen Martin ist turbulent: Um 316/17 in Pannonien im heutigen Ungarn geboren, trat er als 15-jähriger – passend zu seinem vom Kriegsgott Mars abgeleiteten Namen – in die römische Armee ein und diente in einer in Gallien stationierten Eliteeinheit. Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst wurde er Priester, Einsiedler und Klostergründer. Im Jahr 371 wählte man ihn zum Bischof von Tours, wo er im Jahr 397 verstarb. Obwohl kein Märtyrer, hinterließ Martin einen derart nachhaltigen Eindruck, dass ihn der Frankenkönig Chlodwig (482–511) zum "Nationalheiligen" seines Reiches erkor. Mit der Ausdehnung des Fränkischen Reiches kam der Martinskult auch in die östlichen Landesteile. Wann er erstmals am Untermain Fuß fasste, lässt sich nicht konkret bestimmen. Eine jüngst vorgelegte Untersuchung zur frühmittelalterlichen Besiedlung der nördlichen Vorderpfalz datiert dort den fraglichen Zeitpunkt ins späte 6. Jahrhundert. Für das noch weiter östlich gelegene Untermaingebiet, insbesondere seinen südlichen Teil, ist somit höchstens eine gleichzeitig, kaum aber früher einsetzende erste Martinskultepoche anzunehmen.

Die älteste schriftliche Erwähnung einer Martinskirche in unserem Raum verdanken wir Einhard, dem bekannten Biografen, Kunstbeauftragten und Vertrauten Kaiser Karls des Großen. Am 16. und 17. Januar des Jahres 828 ließ Einhard die (in Rom „besorgten“) Gebeine der Heiligen Petrus und Marcellinus von seiner Basilika in Steinbach bei Michelstadt nach dem heutigen Seligenstadt bringen. In seinem Bericht über diese Translation gibt Einhard an, dass man die Nacht zwischen den beiden Reisetagen in der dem heiligen Martin geweihten Kirche von (Groß-)Ostheim verbracht habe. Dass diese Kirche auf dem gleichen Platz wie die heutige Pfarrkirche St. Peter und Paul am Marktplatz stand, daran ist trotz des anders lautenden Patroziniums nicht zu zweifeln. Bezeichnenderweise findet man an der Frontseite des Bauwerks ein eingemauertes altes Sandsteinrelief mit der typischen Darstellung des Frankenheiligen: ein Mantel teilender Reiter mit dem Bettler.

Die zentrale Lage Großostheims im altbesiedelten Bachgau, seine Vorrangstellung in der nach ihm benannten Grafschaft und kurmainzischen Cent (die einst bis nach Laudenbach am Main reichte) sowie innerhalb des Landkapitels „Montat“, der exponierte Standort seiner alten Pfarrkirche, all diese Fakten legen die Schlussfolgerung nahe, dass wir es hier mit einer der ältesten Martinskirchen unserer Heimat zu tun haben und dass ihre Entstehung dem merowingischen Königtum zuzuschreiben ist. Die historische Forschung, die diese These bisher vertreten hat, übersah hierbei jedoch eine weitere frühe Überlieferung für Großostheim und seine Kirche. Der Verfasser entdeckte sie vor einigen Jahren im so genannten „Codex Eberhardi“ des ehemaligen Reichsklosters Fulda, der heute im Staatsarchiv Marburg aufbewahrt wird. Aus ihm geht hervor, dass zur Zeit des Abtes Ratgar (802 – 817) eine Anstrat dem Bonifatiuskloster ihren gesamten Besitz im Maingauort Ostheim samt der Kirche geschenkt hat. Dieselbe Dame ist in der Überlieferung des Klosters Lorsch als Besitzerin einer weiteren Kirche (im Lahngau) ausfindig zu machen, wobei die um 793 ausgefertigte Urkunde vermerkt, dass Anstrat Reliquien des heiligen Martin besaß!

Vermutlich entstammt Anstrat – die Ursprungsform ihres Namens dürfte Ansrat(a) oder Anstrud lauten – der Sippe des ostfränkischen Großen Radulf. Eine Tochter Radulfs war Fastrata, die dritte Gattin Karls des Großen. Enge verwandtschaftliche Verbindungen zu Fastrata (Anstrats Schwester?) und damit zum fränkischen Königshaus können erklären, wie Anstrat in den Besitz von Reliquien des Frankenheiligen Martin gelangt ist.

Überraschend für die Geschichtsforschung dürfte die aus weiteren Gründen wohl gesicherte Erkenntnis sein, dass die für sehr alt gehaltene St. Martinskirche von Großostheim höchstwahrscheinlich erst in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts gegründet wurde und dass die Initiative hierzu vom Adel ausging. Angesichts der zentralen Lage und herausragenden historischen Bedeutung Großostheims ließe sich hieraus schlussfolgern, dass die weiter südlich im Odenwald bzw. mainaufwärts anzutreffenden Martinskirchen frühestens in karolingischer Zeit entstanden sind und dass auch sie zumindest teilweise grundherrschaftliche Eigenkirchen waren, sofern sie nicht ihre Entstehung dem „Martinsbistum“ Mainz verdanken.

Die Frage, wie weit die Ursprünge einer mittelalterlichen Kirche zurückreichen, muss im Einzelfall überprüft werden und lässt sich in den meisten Fällen allenfalls archäologisch konkreter bestimmen. Das häufige Fehlen schriftlicher Nachrichten und aufschlussreicher Grabungsbefunde zwingt die historische Forschung, sich an anderen Datierungskriterien zu orientieren. Zu ihnen gehören unter anderem die Ortsnamen. Hier stellt gerade (Groß-) Ostheim in der Reihe der Martinsorte eine Besonderheit dar. Zwar ist die Endung auf –heim typisch fränkisch, doch verweist der Name auf einen älteren Bezugspunkt, von dem aus gesehen die Siedlung im Osten entstand. Dieser namengebende Altort dürfte das eingegangene, einst bedeutende Nachbardorf Ringenheim gewesen sein. Bezüglich der Großostheimer Martinskirche bedeutet dies, dass sie in einer Ansiedlung entstand, die nicht zu den ältesten unseres Raumes gehört. Zumindest aus dieser Sicht spricht somit nichts gegen die Annahme, dass sich unter den Martinskirchen von Mömlingen, Großwallstadt, Wörth, Kleinheubach und Bürgstadt auch solche befinden, die bereits in merowingischer Epoche entstanden. Zu den sich am unteren Main reihenden alten Martinskirchorten ist vermutlich auch Obernburg zu zählen. Das Patrozinium St. Peter und Paul seiner Pfarrkirche ist nämlich das gleiche wie im benachbarten Großwallstadt und Großostheim, wo Sankt Martin als früherer Kirchenpatron überliefert ist.

Wolfgang Hartmann

Bräuche und Wissenswertes zum Martinstag

Martinstag und Fasenachtsbeginn

Ursprünglich galt das Fest Epiphanie (Anbetung der Hl. Drei Könige am 6. Januar) als eigentlicher Jahresbeginn und (neben Ostern) als zweites altes Hochfest der Christen. Hochfeste sollten aber immer durch eine Art Vorbereitungszeit eingeleitet werden. So wie man Ostern durch eine 40-tägige Fastenzeit vorbereitet, sollte auch das Epiphaniefest durch Besinnung angegangen werden. Rechnet man 40 Tage von diesem Tag zurück (ohne Samstage und Sonntage), so kommt man auf den 12. November. Der 11. November wurde so zu einer kleinen "Fastnacht" (Nacht vor der Fastenzeit). Aus diesem Grund lässt man seit dem 19. Jahrhundert die Fasenacht (Karneval/Fasching) am 11. November beginnen.

Die "Martini-Fastnacht" ergab sich somit aus einer einfachen Rechnung. Dass der 11. November auch als Tag des hl. Martin begangen wurde, war ein zufälliges Zusammentreffen. Erst im Laufe der Zeit ergaben sich aus dem Verschmelzen der beiden Feste Bräuche, die auch heute noch begangen werden. Die Laternen-Umzüge der Kinder entwickelten sich wahrscheinlich aus den Vorschriften des Missale Romanum und den kirchlichen Lesungen, die am Tag des hl. Martin abgehalten worden sind. In diesen Schriften ist immer wieder vom "Licht" und von der "Lampe" die Rede: Licht im Sinne des wahren Glaubens; Christus gilt als das Licht.

Die Martinsgans

Die Martinigans geht wahrscheinlich auf den Umstand zurück, dass in der Epiphanie-Fastenzeit auch keine größeren Rechtsgeschäfte abgewickelt werden durften und Martini deshalb zu einem wichtigen Zinstermin und Markttag wurde. Gänse waren eine typische Abgabe der bäuerlichen Bevölkerung. Auch ging nach alter Zeitrechnung Anfang November das Sommerhalbjahr zu Ende, was man mit Schlachtfesten und Gelagen feierte. So entstand die Tradition der Martinsgans-Essen.

Die Gans als Attribut des hl. Martin taucht erst viel später auf. Der Legende nach soll er sich bei seiner Wahl zum Bischof in einem Gänsestall versteckt haben, da er sich unwürdig für dieses hohe Amt fühlte. Das Schnattern der Gänse habe ihn aber verraten. Die "Martinigans" gab es jedoch schon vor der Entstehung dieser Legende.

Vom Martinsmantel zur Kapelle

Am häufigsten findet man den Heiligen Martin als Mantel teilenden Reiter mit Bettler dargestellt. Diese Szene, die alljährlich bei den Martinszügen ihre Wiederholung findet, soll sich um das Jahr 334 am Stadttor von Amiens abgespielt haben, wo Martin als Soldat diente. An einem strengen Wintertag begegnete Martin dort einem unbekleideten Bettler, der um Hilfe bat. Martin teilte mit dem Schwert seinen Mantel und gab dem Frierenden eine Hälfte. In der Nacht darauf, so die Legende, sah der Heilige im Traum Christus – bekleidet mit dem Mantelstück.

Der schon früh als Reliquie verehrte Mantel (lateinisch: cappa oder capella) des heiligen Martin gelangte in den Kronschatz der merowingischen Könige und begleitete sie auf ihren Reisen und Feldzügen. Aufbewahrt wurde das Kleidungsstück hierbei häufig in kleineren als Kirchenraum dienenden Räumlichkeiten, die deshalb als Kapellen bezeichnet wurden. Die die Cappa betreuenden Geistlichen nannte man Capellane. Die "Kapelle" und der "Kaplan" tragen von diesem Erinnerungsstück an den Heiligen Martin noch heute ihre Namen.

Vom Kaplan zum Reichkanzler

Da die Kapellane lesen und schreiben konnten, nahmen sie neben ihren seelsorgerischen Pflichten auch das Amt der Hof- und Urkundenschreiber wahr. Daraus erklärt sich auch der Name „Hofkapelle“ für die königliche Kanzlei. Sie entstand unter Karl dem Großen als zentrale geistige Institution am Königshof, war die oberste Verwaltungsbehörde im fränkischen und später ostfränkischen Reich und diente allen späteren Königshöfen in Europa als Vorbild.

An der Spitze der Hofkapelle stand seit Ludwig dem Deutschen der Erzkaplan. Wegen der Kanzleifunktion der Hofkapelle wurde dieser schon bald Erzkanzler genannt. Ab 870 bekleidete dieses Amt der Erzbischof von Mainz. Otto der Große musste jedoch den Erzbischöfen von Köln und Vienne (später Trier) ebenfalls die Erzkanzlerwürde zugestehen. Daraus entwickelten sich die drei geistlichen Erzämter, die für die Reichsbereiche Deutschland (Mainz), Italien (Köln) und Burgund/Arelat (Trier) zuständig waren. Während der häufigen Abwesenheit der Erzkanzler vom Königshof führte der (Reichs-)Kanzler die Geschäfte und wurde dadurch zu einem wichtigen Berater des Königs.

Wolfgang Hartmann

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